LINDAU – Als sich am Samstag die Pforten des Lindauer Stadttheaters öffneten, strömten die Besucher zum Auftakt zur aktuellen Saison in das Foyer. Die erste Veranstaltung ist seit 15 Jahren dem Auftritt einer renommierten Schauspielerin vorbehalten. Letztes Jahr war es Meret Becker – dieses Mal die international gefeierte Martina Gedeck. Sie hatten am Abend zu ihrer Lesung aus Franz Grillparzers Novelle „Der arme Spielmann“ein nicht weniger bedeutendes musikalisches Ensemble – das Sitkovetsky Trio – mit nach Lindau gebracht. Ausverkauft – ein Wort, das mit Blick auf die Programme im Stadttheater fast schon zum Standard gehört. Man habe nahezu den guten Kartenvorverkauf von vor der Pandemie erreicht, gab sich Kulturamtsleiter Alexander Warmbrunn sichtlich zufrieden. Sein Fazit: „Das Theater ist unverzichtbar für Lindau.“
Martina Gedeck für ein Gastspiel am See zu gewinnen, daran habe er schon lange gearbeitet. Mehr als 140 Kinound Fernsehrollen machen die Karriere der 1961 in München geborenen, heute in Berlin lebenden Schauspielerin aus. Daneben ist sie Hörbuchund Hörspielsprecherin. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen hat sie erhalten, unter anderem 2022 als Sprecherin den Deutschen Hörbuchpreis. Gedeck spielte zudem die weibliche Hauptrolle in dem Film „Das Leben der Anderen“, der 2006 den Oscar für den besten ausländischen Film erhielt.
Den Abend mit Grillparzers 1848 veröffentlichten Novelle zu gestalten, ist ein langgehegter Wunsch Gedecks. Sie feierte damit in Lindau eine Premiere. Es ist die leidvolle Geschichte von Jakob, Sohn eines ehrgeizigen Wiener Hofrats, dem der Erzähler auf dem alljährlich stattfindenden Kirchweihfest begegnet. Während sich das Treiben in der sonst ruhigen Stadt einem „Eldorado“gleicht, bleibt der Blick des Erzählers an einem „alten, leicht siebzigjährigen Mann in einem fadenscheinigen Überrock“, eben jener Jakob, hängen. Kahlköpfig, den Hut vor sich als Sammelbüchse platziert, bearbeitet er seine Violine. Wenn Gedeck diese ersten Zeilen mit ihrer klaren, nie aufdringlichen Stimme liest, ist die Zuhörerschaft augenblicklich mitten im Geschehen. Sie hat die große wunderbare Gabe, auf direktem und authentischem Wege in dem Fall in die damalige Zeit des österreichischen Dramatikers einzutauchen. Konkret in die Rolle des Erzählers, der für den Moment den Lebensweg von Jakob begleitet.
Die Novelle trägt autobiografische Züge Grillparzers. Insbesondere, was das Spannungsverhältnis zwischen Wunschdenken und Realität, zwischen sogenannter Charakterschwäche und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen angeht. Es ist ein fortwährendes Auf und Ab bestehend aus Zuversicht und Resignation, aus Lebensmut und endgültigem Scheitern.
Grillparzers armer Spielmann ist zudem ein Schlüsselwerk für die Musikwelt der Romantik, mit der sich der Autor einst auseinandersetzte. Womit das Sitkovetsky Trio ins Spiel kommt als eines der aktuell gefragtesten Ensembles weltweit.
Gründer und Geiger Alexander Sitkovetsky an einer Stradivari, Pianistin Wu Qian und Cellist Isang Enders bestritten diesen Abend instrumental in beeindruckender Manier. Im Wechsel mit Gedecks gelesenen Passagen führten sie ausgewählte Sätze
aus Werken von Franz Schubert, darunter „Der Leiermann“, und Robert Schumann als den beiden großen Romantikern auf. Träumerisch verbrämt in Schumanns „Das Lied des Spielmanns“kontra kapriziös überbordend in Ludwig van Beethovens
„Kreutzersonate“, gefolgt von Erwin Schulhoffs Rondo aus dessen Cellosonate op. 17 und Alfred Schnittkes irrwitzig um sich selbst kreiselnde Polka.
Hiermit stand Gedeck ein mehr als beeindruckendes Ensemble zur Seite, das sich auf ein erstklassiges Zusammenspiel versteht. Hier erklingen jede Terz und jede Quint in einem einzigartigen Miteinander und überw.ltigenden Präsenz. Eben derjenigen, über die auch die Erzählerin verfügt. Sobald Jakob von seiner Drangsal durch den Vater erzählt, von seiner schüchternen Liebschaft zu Barbara, die ihm mittels Ohrfeige der Lebensuntüchtigkeit bezichtigt, ihn aber doch irgendwie gernhat, begibt sich Gedeck gefühlt immer tiefer in dessen Rolle. Auch in komischen wie hilf losen Situationen wie bei Jakobs heftig erwidertem Kuss – allerdings durch die Glasscheibe und damit ungebremst auf dem Boden der Realität landend.
Gedeck gilt als Meisterin der Zwischentöne. Als eine, die ihre Figuren durch und durch analysiert. Es dabei aber nicht belässt, sondern wie jetzt bei dieser Premiere mit künstlerischer Fantasie anreichert und zu einer Art neuem Leben erweckt. Und das hat in übertragenem Sinn durchaus mit unserem Heute zu tun.
Babette Caesar